In einem in die Jahre gekommenen Ferienresort an der türkischen Riviera genießt die 11-jährige Sophie den Urlaub mit ihrem jungen Vater Calum. Zwanzig Jahre später, kurz vor ihrem Geburtstag, erinnert sich die nun 31-Jährige an diesen Urlaub und studiert die alten Camcorder-Aufnahmen, die sie und Calum damals selbst filmten.
Schwimmen im Pool, Eiscreme, Ausflüge, cringiges Hotelentertainment und Sonne satt. Da stört es auf den ersten Blick gar nicht, dass das Hotel eine Baustelle ist, das Zimmer nur ein Bett statt der gebuchten zwei vorweist und Calum irgendwie nicht ganz da zu sein scheint. Es dauert ein wenig, bis bei all den sonnendurchfluteten Bildern in Charlotte Wells Debüt eine latente Traurigkeit an die Oberfläche tritt.
Da ist der Ausdruck in Calums Augen und die fehlende Antwort, wenn Sophie ihn wiederholt fragt, wo er sich in ihrem Alter mit 31 vorgestellt hat. Als ihm ein Angestellter auf einem Tauchtrip erzählt, dass er Vater wird und damit nicht vor dem 40. Lebensjahr gerechnet hätte, erwidert Calum „I can’t see myself at 40, to be honest.“ Wenig später balanciert er in Shorts auf dem Geländer des Hotelbalkons. Oder die Bücher über Tai Chi und Meditation, die erahnen lassen, dass er sich Ruhe und Frieden für Körper und Seele herbeisehnt. Doch diese findet Calum nicht. Nicht in diesem Urlaub – und auch nicht in diesem Leben.
„Don’t you ever feel like… you’ve just done a whole amazing day and then you come home and feel tired and down and… it feels like your organs don’t work, they’re just tired, and everything is tired. Like you’re sinking?“ fragt Sophie ihn, kurz bevor sie das Hotelzimmer verlassen wollen und erhält auch hier keine Antwort aus dem Bad. Calum starrt nur und spuckt den Spiegel an.
„Aftersun“ setzt sich wie ein Mosaik aus Videoschnipseln, Sophies Erinnerungen und der traurigen Realität zusammen: Calum ist ein liebenswerter, aufmerksamer, einfühlsamer Vater, doch seine Psyche ist nicht nur überschattet von Selbstzweifeln und unerfüllten Lebenszielen.
Betont werden muss hier das vollkommen natürliche Schauspiel der Darstellenden: Herzzerreißend ist Paul Mescal als Calum, aber allen voran Frankie Corios Sophie ist nichts anderes als eine Sensation. Ihre Mimik wirkt nie gewollt, als wäre die Kamera nicht da, als wäre dies kein Film, bewegt sie sich durch die Szenen, als erlebe sie die Realität. Mescal und Corio liefern einmalige Leistungen in einem Film, der bis ins letzte Detail weiß, welche profunde Geschichte er wie erzählen möchte. Jeder noch so kleine Dialog, jede Kameraeinstellung, jeder Popsong – egal ob ominös im Hintergrund oder bewusst ins Zentrum der Handlung gestellt – nichts ist hier Zufall.
Dennoch muss man keine Sekunde ein schwerfälliges Vater-Tochter-Drama fürchten. Alles ist so sanft und sensibel mit zartem Humor und subtilem Schmerz inszeniert, dass man selbst das Gefühl hat, dort an der türkischen Riviera zu weilen – mit allen Freuden und Enttäuschungen, die jedem Familienurlaub innewohnen. Und so schaut auch die erwachsene Sophie (inzwischen selbst Mutter) keinesfalls bitter, nur fragend und traurig auf diesen Urlaub mit ihrem Vater zurück.
Zu hingebungsvoll und liebevoll war sein Umgang mit seiner inzwischen pubertierenden Tochter. „You know, I want you to know that you can talk to me about anything, ever – parties you go to, boys you meet, drugs you take,“ bittet Calum Sophie eindringlich – man weiß, er meint es ernst und weiß, wovon er spricht. Und im Rahmen seiner Möglichkeiten tut er alles dafür, seinem Kind schöne Ferien zu ermöglichen. Nur er selbst ist in entscheidenden Momenten nicht in der Lage, diese anzunehmen.
„Aftersun“ ist ein ganz kleiner, leiser, ganz großer Film. Warm, bittersüß und melancholisch wandelt er stets kunstvoll zwischen vermeintlicher Belanglosigkeit und Abgrund.