Maren ist schlagartig auf sich gestellt, als ihr Vater sie von einem Tag auf den anderen verlässt. Der Grund ist so einfach wie erschreckend: Die 16-Jährige hat seit ihrer Kindheit wiederholt die Kontrolle verloren und Menschen angefallen und sogar gegessen. Maren ist das, was man umgangssprachlich eine Kannibalin nennt. Nach der letzten Eskalation konnte es der Vater nicht mehr ertragen. Ihre Mutter hat Maren nie kennengelernt. Das soll sich nun ändern. Maren zieht los, um sie zu finden. Dabei trifft sie den jungen Lee, der so ist wie sie: ein Eater. Gemeinsam begeben sich die beiden auf einen Roadtrip durch die USA, auf der Suche nach Zugehörigkeit und Heimat.
Regisseur Luca Guadagnino verschreibt sich in „Bones And All“ kompromisslos drei Dingen: Der geografischen Schönheit der amerikanischen Landschaften, seinen brillanten Schauspieler/innen und den extrem grafischen Kannibalismus-Szenen.
Dabei kreiert er einen atemberaubenden, epischen Film, der zum Weinen schön ist, wenn er beispielsweise die zwei Teenager in den weiten Landschaften der Graslande Nebraskas ihre Liebe zueinander entdecken lässt, und absolut furchterregend, wenn Maren und Lee essen müssen oder eben … wollen.
In diesem visuellen Kontrast spiegelt sich auch das Hauptthema des Films: Die für die Teenager aussichtslose Suche nach Liebe und einem Zuhause. Diese Sehnsucht steht im Konflikt zu dem Gefühl der Einsamkeit und Isolation, die ihre Neigung mit sich bringt. Kannibalismus ist ein moralisches Dilemma, das man nicht überwinden kann – außer vielleicht durch eine alles verschlingende Liebe?
„Let’s be people“ sagt Maren zu Lee, und man wünscht ihnen so sehr, dass das gelingt.
Timothée Chalamet spielt Lee entwaffnend liebenswert, aufrichtig und charmant. Die Entdeckung des Films ist aber Taylor Russell, die Maren Zartheit und Anmut verleiht. Eine reinere, unschuldigere Kannibalin hat man nie in einem Film erleben dürfen.
Sie steht im krassen Gegensatz zu Mark Rylance’ Charakter Sully – ein in die Jahre gekommener Eater, den Maren auf ihrer Reise trifft und an dem seine Neigung und die damit verbundene Einsamkeit längst zu viele Spuren hinterlassen hat. Rylance liefert in „Bones And All“ wohl am ehesten das, was man eine schauspielerische Ausnahmeleistung nennen darf. Er ist zwielichtig, charismatisch, verstörend und berührend zugleich.
Unvergesslich bleibt auch der Score des Films, komponiert von Trent Reznor & Atticus Ross, der quasi einen eignen Charakter darstellt und in seiner Ruhe und Angespanntheit ebenfalls die teils grauenhaften oder sanften Bilder kontrastiert.
Guadagnino verfilmt „Bones And All“ den Young Adult Roman von Camille Deangelis überaus frei, nutzt eigentlich nur grob die Handlung des Buches und verändert viele essenzielle Punkte, wie es ihm wohl für seinen Film passender erschien. Bei der Schönheit des Ergebnisses kann man ihm das verzeihen, auch wenn ich bei einigen Änderungen und Auslassungen ein Störgefühl hatte.
„Bones And All“ ist damit in meinem Augen eine keineswegs werkgetreue VERfilmung, aber einer der schönsten und stärksten Filme des Jahres.