Charlie (Brendan Fraser) wiegt rund 300 kg und lebt nach dem Selbstmord seines magersüchtigen Geliebten isoliert in seinem Appartement. Die einzige Person, mit der Kontakt hat, ist seine Krankenschwester und Freundin Liz (Hong Chau). Als Charlies Gesundheitszustand zunehmend lebensbedrohlich wird, versucht er sich mit seiner entfremdeten Tochter Ellie (Sadie Sink) zu versöhnen.
In Charlie begegnen wir einer sensiblen, klugen, aber gebrochenen Seele. Er hat Fehler begangen in seinem Leben. Entscheidungen getroffen, die ihn bis heute heimsuchen und die er sich nicht verzeihen kann. Entsprechend bestraft er sich selbst durch extreme Gewichtszunahme, baut sich einen „Sarg aus Fleisch“.
Man fragt sich also: Was ist die schlimmste Strafe, die sich ein Mensch aus Schuldgefühlen selbst zufügen kann? Nun, in den Augen von Regisseur Darren Aronofsky sind es nicht selbstzerstörerisches Verhalten wie Sucht oder gar Suizid. Nein, es ist sich ein Körpergewicht von rund 300 kg anzuessen.
Die Psychologie hinter dieser sehr speziellen Art der Manifestation von Schuldgefühlen durchleuchtet „The Whale“ allerdings nicht. So wird Charlies Übergewicht zum Mittel zum Zweck. Austauschbar. Genauso gut könnte er Alkoholiker sein. Dabei sind Essstörungen ein komplexes Thema, bei dem es Pflicht sein sollte, genauer hinzusehen, wenn man sich ihrer in künstlerischer Form annehmen möchte. Insbesondere als nicht betroffene Person.
Regisseur Darren Aronofsky und Autor Samuel D. Hunter sind nicht betroffene Personen. Hunter litt zwar selbst lange Zeit unter Essstörungen, übergewichtig wie Charlie war er nie. In seinen Zeilen und in Aronofskys Regie kristallisiert sich leider eine erschreckend simple, oberflächliche und (vermutlich) unterbewusste Ablehnung gegenüber stark übergewichtigen Menschen heraus.
Scheinbar hält es der Regisseur für ein (Zitat) „ehrliches, wahrheitsgetreues Porträt“, wenn er einen schwerst übergewichtigen Mann in einem abgedunkelten, völlig verwahrlosten Apartment zeigt und einfach die Kamera draufhalten lässt:
Charlie, wie er ein großes Sandwich herunterschlingt, sich vor Gier verschluckt und fast erstickt. Charlie, wie er zwei Pizzastücke auf einmal mit extra Belag und Mayonnaise aus dem Kühlschrank isst, um anschließend mit mehreren Scheiben Toastbrot mit Nacho Chips und Marmelade weiterzumachen. Er schwitzt dabei, er sabbert, die Sauce und die Krümel kleben ihm überall im Gesicht. Aronofsky inszeniert dieses Binge Eating voyeuristisch, erschreckend und abstoßend – wie eine Szene aus einem Horrorfilm. Das Monster vertilgt seine Beute. Aber „The Whale“ ist kein Horrorfilm. Charlie ist kein Monster.
Diese Art der Darstellung eines dicken Menschen ist hässlich und man fragt sich: Warum? Wieso möchte man einen ganzen Film so inszenieren?
„Charlie wird zu einem unerwarteten Vehikel für die Empathie des Publikums.“, erklärte Hunter in einem Interview. Aronofsky betonte wiederholt, wie wichtig es ihm sein, Charlie als „menschlich“ darzustellen. Nun, Überraschung: Charlie IST ein Mensch. Egal wie viel er wiegt. Wieso sollte man ihn als nicht menschlich betrachten, kein Mitgefühl mit ihm haben?
Und eine noch viel wichtigere Frage drängt sich auf, wenn man „The Whale“ sieht: Warum gibt es so wenig mediale Darstellungen von übergewichtigen Menschen, die einfach nur ihr Leben leben, arbeiten gehen, ihre Freizeit gestalten, Spaß haben, lieben und geliebt werden? „The Whale“ unterfüttert die vollkommen falsche Annahme, dass dicke Menschen fressen, verwahrlosen und bis zu ihrem Tod freudlos und einsam in der Dunkelheit vor sich hin vegetieren.
Der einzige Lichtblick in „The Whale“ ist Brendan Fraser. Er empfindet Mitgefühl für seinen Charakter. Er spielt ihn zärtlich, voller Wärme, Humor und Scharfsinn. All das jedoch leider in einem Fatsuit, welches anschließend noch digital weiterentwickelt werden musste. Scheinbar um seine Erscheinung noch erschreckender zu machen. Wieso man sich nicht nach einem übergewichtigen Schauspieler umgesehen hat – ich stelle die Frage lieber erst gar nicht.
Frasers Darstellung steht damit im krassen Kontrast zu Drehbuch, Regie und der Cinematography von Kameramann Matthew Libatique. Als wolle er gegen all die Hässlichkeit und Abscheu, die „The Wahle“ innewohnen, anspielen.
„Do you ever get the feeling that people are incapable of not caring?“ fragt Charlie in einer Szene.
Denn Mitgefühl empfindet Charlie für alle Figuren des Films. Er vergibt ihnen allen – nur niemals sich selbst. Charlie könnte trotz seines fortschreitenden Verfalls ins Krankenhaus. Er weigert sich jedoch aus Gründen, die der Film als Opferbereitschaft verkauft. Dass es statistisch und wissenschaftlich belegt ist, dass übergewichtige Menschen von der Medizin oftmals weniger ernst genommen oder abgewiesen werden, die so belegte systemimmanente Diskriminierung von Übergewichtigen also, wird nicht thematisiert.
Ich hatte tiefes Mitgefühl mit Charlie. Brendan Fraser hatte Mitgefühl für Charlie. Aronofsky glaubt, er inszeniere Charlie voller Mitgefühl, in Wahrheit bedient er jedoch unabsichtlich alle gesellschaftlich diskriminierenden Klischees, mit denen dicke Menschen tagtäglich konfrontiert sind. All das macht „The Whale“ zu einem ambitionierten, aber fehlgeleiteten, voyeuristischen und im tiefsten Inneren verurteilenden Film, der übergewichtigen Menschen ablehnt und für seine Hauptfigur keine Chance auf Erlösung erlaubt.